Moderne Entwicklung der Matriarchatstheorie

In diesem Stadium der Diskussion existierte weder eine wissenschaftliche und anerkannte Definition der matriarchalen Gesellschaftsform über Bachofens vages „Mutterrecht“ hinaus, noch beachteten die Untersuchungen weibliche Führung als eigene Kategorie mit ihren unabhängigen Strukturen, Mechanismen oder Funktionen. Stattdessen präsentierten die Forscher oft Herabsetzungen der von Frauen geführten Kulturen und drückten kaum mehr als ihr persönliches Niveau an Kulturschock und Leugnung aus. Alternativ wurde das Matriarchat für europäische Polemiken verwendet. Dieses Fehlen wissenschaftlicher Strenge öffnete die Tür für emotionale und ideologische Verwirrung und belastete dieses Forschungsfeld, was erst in den 1990er Jahren nachließ.

Entwicklung der Matriarchatstheorie Mitte des 20. Jahrhunderts

Diop 1959 schuf eine signifikante Definition des afrikanischen Matriarchats, allerdings ohne Anerkennung im westlichen Diskurs.  Das bahnbrechende Werk der Archäologin Marija  Gimbutas 1989, löste 1991 die Blockaden der westlichen Denkweisen auf, ohne jedoch eine neue Definition von Matriarchat vorzustellen. Adler 1982, O'Brien und Tiffany 1984 und Eisler 1987 versuchten sich an einer Definition.

 

Diop, Cheikh Anta. The Cultural Unity of Black Africa. Trenton, NJ: Karnak House Publishers, 2000. (Original in Französisch 1959).

Der senegalesische Historiker Diop erstellte eine substanzielle Definition afrikanischer, mutterzentrierter Gesellschaften und argumentierte, dass die afrikanischen Kulturen des ganzen Kontinents matriarchale Wurzeln haben, die bis in die früheste Zeit zurückreichen. Er erklärte, dass Afrikas matriarchale Wurzeln die Quelle der Einheit der afrikanischen Kulturen sind, obwohl die Kolonisierung durch Araber und Europäer diese Einheit verdunkelt und eine kulturelle Heterogenität erzeugt hatte. Vorhergehende interne afrikanische Umwälzungen werden von ihm allerdings ausgeblendet.

 

Gimbutas, Marija. Die Sprache der Göttin, Frankfurt 1996, Zweitausendeins Verlag.

Gimbutas  bezog sich auf die 30.000 weiblichen Statuetten, die gewöhnlich als „Idole“ missdeutet werden, und betrachtete sie als Göttinfiguren und Symbole alter Glaubensvorstellungen und sozialer Praxis. Allerdings bezeichnete sie die soziale und religiöse Ordnung dieser frühen Kulturen explizit als „matristisch“ und trug damit nicht zu einer neuen Definition des Begriffs „Matriarchat“ bei. (Siehe auch: Forschungen über historische matriarchale Gesellschaften – Archäologie)

 

Gimbutas, Marija. Die Zivilisation der Göttin. Frankfurt 1996, Zweitausendeins Verlag.

Gimbutas ging der sozialen Bedeutung der Frauen von der Altsteinzeit bis zur Jungsteinzeit nach und argumentierte, dass in Kulturen, die eine Vielzahl von Göttinnen verehrten, Frauen den Rang von Priesterinnen innehatten. In einem weiten Überblick dokumentierte sie die reichen, urbanen Kulturen Alteuropas in den verschiedenen Kulturprovinzen vom Donautal bis Nordeuropa und bezeichnete sie als „matristisch“ oder mutterzentriert. Außerdem entwickelte sie die „Kurgan Theorie“ als eine Theorie zur Entstehung des Patriarchats in Europa.

 

Adler, Margot. “Meanings of Matriarchy.” In Charlene Spretnak, Hrsg. The Politics of  Women’s Spirituality: Essays on the Rise of Spiritual Power within the Feminist Movement. Garden City, NY: Achor Books, 1982, 127–37.

Adler fasste die bisherige Matriarchatsforschungen zusammen, ohne Neuland zu betreten. Sie bot damit jedoch einen Ausgangspunkt für westliche Feministinnen im späten zwanzigsten Jahrhundert. 

 

O’Brien, Denise, and Sharon W. Tiffany, Hrsg. Rethinking Women’s Roles: Perspectives from the Pacific. Los Angeles: University of California Press, 1984.

Diese Anthologie kritisierte die damals männlich dominierte Sichtweise in der Anthropologie, indem sie aufzeigte, dass es für weibliche Forschende leichter war als für männliche, Kontakt zu den Frauen indigener Kulturen aufzunehmen, mit Hinweis darauf, dass aus diesem Grund vieles von diesen Kulturen ausgelassen worden war. Da die Autorinnen dieser Anthologie jedoch alle aus unterschiedlichen Perspektiven schrieben, kamen sie zu unterschiedlichen und nicht unbedingt kompatiblen Schlussfolgerungen zum Matriarchat.

 

Eisler, Riane. Kelch und Schwert. Von der Herrschaft zur Partnerschaft. München 1989.

Die Kulturhistorikerin und Theoretikerin Eisler versuchte, die patriarchale Prägung auf dem Gebiet der Sozial - und Kulturgeschichte durch die Verwendung ihrer neuen Begriffe „Androkratie“ und „Gylanie“ aufzuheben. Sie beabsichtigte, damit jegliche restlichen Konzepte von männlicher Überlegenheit gegenüber weiblicher Minderwertigkeit, welche die Wahrnehmung verzerrten, zum Verschwinden zu bringen (Eisler, VII, 105). Jedoch beeinflusste ihr Ansatz die Terminologie nicht nachhaltig, denn „Matriarchat“ blieb der bevorzugte Ausdruck in der Debatte.

 

Moderne Entwicklung der Matriarchatstheorie

Die modernen, systematischen Definitionen des Matriarchats wurden unabhängig voneinander von Göttner-Abendroth 2012 (beginnend 1988), Sanday 2002 und Mann 2000 erstellt. Vaughan 1997 definierte die Schenke-Ökonomie, die Mann 2005 in einem Workshop in Italien als gemeinsames Merkmal aller Matriarchate hervorhob. Dieser Zeitpunkt war der Beginn der modernen Matriarchatsforschung als eigenständigem Forschungsgebiet mit einer eigenen Methodologie und kritischem, wissenschaftlichem Standard. Sie wurde einer breiten Öffentlichkeit auf Konferenzen vorgestellt: den Weltkongressen für Matriarchatsforschung 2003 und 2005 in Europa und den USA, wie in der Anthologie von Göttner-Abendroth 2009 präsentiert. Ein dritter Kongress für Matriarchatsforschung und Matriarchatspolitik folgte 2011.

 

Göttner-Abendroth, Heide. Das Matriarchat. Band I, 1988-2010, Band II,1 1991-1999, und Band II,2, 2000, Stuttgart: Kohlhammer Verlag.

Mit dieser Reihe begründete die deutsche Philosophin Goettner-Abendroth ab 1988 die moderne Matriarchatsforschung. Sie formulierte eine systematische, umfassende Definition von „Matriarchat“ und stellte die Matriarchatsforschung durch eine expliziten Methodologie und eine fundierte Ideologiekritik auf wissenschaftlichen Boden. Induktiv gewonnen aus ihrer langjährigen, interkulturellen Forschung stellt diese Definition die „Tiefenstruktur“ der matriarchalen Gesellschafsform dar: geschlechter-egalitär und konsensorientiert; Manifestation mütterlicher Werte durch Matrilinearität und Matrilokalität; Schenke-Ökonomie in der Grundversorgung. In ihrem reichen Werk werden die jüngeren und noch existierenden Gesellschaften dieses Typs dargestellt.

 

Sanday, Peggy Reeves. Female Power and Male Dominance: On the Ori gins of Sexual Inequality. 1981. Cambridge: Cambridge University Press, 1996.

Sandays großangelegte, kulturübergreifende Studie zu indigenen Gesellschaften bestritt das herrschende und damals auch unter Feministinnen populäre Argument der universellen weiblichen Unterordnung. Sie argumentierte stattdessen, dass männliche Dominanz unter verschiedene Arten von kulturellen Stress-Situationen als Lösung entstanden sei. Sie zeigte die ganze Variationsbreite zwischen männlichen und weiblichen Machtpositionen und entwickelte einen theoretischen Rahmen zur Erklärung dieser Variationen.

 

Sanday, Peggy Reeves. Women at the Center: Life in a Modern Matriarchy. Ithaca-New York: Cornell University Press, 2002.

Basierend auf ihren Beobachtungen der indigenen Gesellschaft der Minangkabau auf Sumatra begann Sanday eine angemessene Definition des Matriarchats zu entwickeln (siehe weiter unten: Pazifik Inseln).

 

Vaughan, Genevieve. For-Giving, Schenken und vergeben. Eine feministische Kritik des Tauschs, Königstein/Taunus: Ulrike Helmer Verlag, 2008.

In ihrem provokativen Blick auf die Verbindung zwischen Ökonomie, Mutterschaft und Sprache sah Vaughan, dass die Schenke-Ökonomie aus dem Prototyp der fürsorglichen Mutter als ökonomische und soziokulturelle, nicht als biologische Funktion entspringt. Sie postulierte, dass das Schenken die gesamte Gesellschaft lebenslang durchdringt, als eine verdeckte Wirtschaft, welche die westliche kapitalistische Geldwirtschaft nährt und von ihr ausgebeutet wird.

 

Mann, Barbara Alice. Iroquoian Women: The Gantowisas. New York: Peter Lang Publishing, 2000.

Die Indigene Ohio Seneca Mann analysierte die Kulturgeschichte der Irokesen, bezeichnete diesen Kulturtypus ausdrücklich als „Matriarchat“ (63) und beschrieb die Merkmale dieser Gesellschaft in den politischen, sozialen, wirtschaftlichen und spirituellen Bereichen. Sie ebnete damit den Weg zu einer vollständigen Definition des Matriarchats, unabhängig von Sanday und Göttner-Abendroth (siehe weiter unten: Amerika – Nord Amerika – Die Irokesen ).

 

Göttner-Abendroth, Heide, Hg. Gesellschaft in Balance. Stuttgart: Kohlhammer Verlag, 2006;

Göttner-Abendroth, Heide, Hg. Societies of Peace: Matriarchies Past, Present and Future. Toronto: Inanna Press, York University, 2009.

Göttner-Abendroth hat die Vorträge der von ihr geleiteten Weltkongresse für Matriarchatsforschung, 2003 in Luxemburg und 2005 in Texas/USA, in Deutsch und Englisch herausgegeben. Die Anthologien beinhalten nicht nur die Vorträge westlicher Wissenschaftler/innen, sondern auch die von indigenen Forscher/innen, die ihre eigenen matriarchalen Kulturen in Amerika, Afrika und Asien vorstellten. Zum dritten Weltkongress 2011: Veröffentlichung der Vorträge im Internet: www.kongress-matriarchatspolitik.