Historische Entwicklung der Matriarchatstheorie

Abgesehen von Herodot war Lafitau 1724 einer der ersten, der das Matriarchat beschrieb, als Auftakt und vielleicht als Ansporn für nachfolgende Theoretiker, einschließlich Adair 1775, der sehr erstaunt über die „Weiberherrschaft“ war. Die engagierte, akademische Erforschung matriarchaler Gesellschaften begann erst mit dem US-amerikanischen Anthropologen Morgan 1851 in seiner Studie zur Irokesen-Liga.  Unabhängig von Morgan untersuchte der Schweizer Historiker Bachofen 1861 die Struktur von „Mutterrecht“. Morgan ging 1877 wieder dazu über, indigene Matriarchate als „primitiv“ zu bezeichnen, ebenso der Anthropologe Carr 1884, der das irokesische Matriarchat zwar genau, aber mit einem Schaudern beschrieb.

 

Herodot: Historien, Buch I-V, Eberhard Richtsteig, Hg., Goldmann Verlag, München, 1961.

Bei der Darstellung der Kriegerinnen der antiken Welt erzählte Herodot Gruselgeschichten über Amazonen als sich selbst verstümmelnde “Männerschlächter” (3: 12). Damit säte und untermauerte er einen langanhaltenden Widerstand der westlichen Welt gegenüber dem Thema. Ursprünglich auf Griechisch veröffentlicht, ca. 425.

 

Lafitau, Joseph-François. Sitten der amerikanischen Wilden, im Vergleich zu den Sitten der Frühzeit. 1752/53. Neuausgabe H. Reim, Edition Leipzig, Weinheim, 1987.

Lafitau, ein jesuitischer Missionar, beschrieb das tägliche Leben der Irokesen und stellte fest, dass „nichts realer war“ als die „Überlegenheit“ der Frauen im Nordosten Nordamerikas (1: 69).  Der Vergleich der irokesischen matriarchalen Gesellschaft mit antiken, “klassischen” Texten führte Lafitau dazu, die matriarchalen Irokesinnen im Sinne des europäischen Altertums darzustellen, was zu einer unglücklichen, aber sehr nachhaltigen Gewohnheit führte. Ursprünglich im Jahr 1724 auf Französisch veröffentlicht.

 

Adair, James. History of the American Indians. Hrsg. Samuel Cole Williams. Johnson City, TN: Watauga Press, 1930.

Bei dem Versuch, „zu beweisen“, dass die amerikanischen Ureinwohner die „Zehn verlorenen Stämme Israels“ waren, stieß James Adair gezwungenermaßen auf die Matriarchate der östlichen Waldzone. Seine unter Kulturschock entstandene Charakterisierung von indigenen Matriarchaten verbreitete unter den neu-amerikanischen Siedlern seine verleumderische „Weiberherrschaft“ als eine frevelhafte und unmoralische Lebensweise (Adair, 232). Ursprünglich im Jahr 1775 veröffentlicht.

 

Morgan, Henry Lewis. League of the Ho-dé-no-saunee or Iroquois. 2 Bde., 1851 und 1971/1877. Neuausgabe H.M.Lloyd, New York, 1901.

Morgan, intensiv über die Irokesen-Kultur durch den berühmten Seneca-Häuptling Häsanoanda („Ely S. Parker“) informiert, trug mit seiner wegweisenden Studie über die nordamerikanische Irokesen-Liga dazu bei, die Sozialwissenschaft der Anthropologie zu begründen. Das Werk The League of the Ho-dé-no-saunee  ermöglichte erstmals einen systematischen Blick in die Welt einer hochentwickelten, zeitgenössischen matriarchalen Kultur. Ursprünglich im Jahr 1851 veröffentlicht.

 

Bachofen, Johann Jakob. Das Mutterrecht, Stuttgart, 1861. Neuausgabe in Auswahl H.J. Heinrichs, Frankfurt, 1975.

Mit Das Mutterrecht forschte Bachofen von der Antike ausgehend und legte damit den Grundstein für den kulturhistorischen Zweig der Matriarchatsforschung. Sein wesentlicher Beitrag bestand darin, sein Thema als „Mutterrecht“ aufzufassen, was ein theoretisches Verständnis von dessen Eigenart und Entwicklung schuf. Seine Theorie blieb allerdings problematisch, geprägt vom Patriarchat seiner eigenen Zeit und seiner eigenen Stellung. Ursprünglich im Jahr 1861 auf Deutsch veröffentlicht.

 

Carr, Lucien. “On the Social and Political Position of Woman among the Huron-Iroquois Tribes.” Peabody Museum of American Archaeology and Ethnology, Reports 16&17, 3.3–4, 1884, 207–32.

Carr beschrieb das irokesische Matriarchat, um es zu denunzieren. Das System sei ein „reiner Spott auf die Hilflosigkeit des Mannes“, klagte Carr: „Von der Wiege bis zur Bahre gab es keinen Augenblick, in dem der irokesische Mann nicht einer Frau unterworfen war“ (Carr, 222-23). Sein Bericht über die Befugnisse, Rechte und Pflichten der Clanmütter beschrieb dennoch ein funktionierendes Matriarchat.

 

Westlich- feministische Perspektive auf das Matriarchat

Indigene Matriarchate wurden zum Paradebeispiel der westlichen Feministinnen, einschließlich Fletcher 1888 und Wagner 2001.

 

Fletcher, Alice. “The Legal Conditions of Indian Women.” In Report of the International Council of Women. Washington, D.C.: Rufus H. Darby, 1888, 237–41.

In ihrem Bericht über die Stärken der ursprünglichen Einwohnerinnen Amerikas drehte Fletcher die rassistischen Stereotypen um. Die Feministinnen von Seneca Falls waren sich der politischen Macht der Clanmütter bewusst, schafften es allerdings nicht, die ökonomischen, spirituellen und sozialen Aspekte des Matriarchats zu erfassen.

 

Wagner, Sally Roesch. Sisters in Spirit: Haudenosaunee (Iroquois) Influence on Early American Feminists. Summertown, TN: Native Voices, 2001.

Wagners Geschichte der Seneca Falls und der feministischen Bewegung des 19. Jahrhunderts in den USA untersucht deren Wahrnehmung, Aneignung und exemplarische Anwendung des zeitgenössischen Matriarchats der Irokesen, indem nun die europäisch-amerikanischen Frauen entsprechende  soziale, politische und wirtschaftliche Rechte einfordern.

 

Marxistische Perspektive auf das Matriarchat

Die Marxisten, besonders Engels 1884 im neunzehnten Jahrhundert und Reed 1975 im zwanzigsten Jahrhundert, benutzten die Existenz des Matriarchats in ökonomischer Hinsicht als das erste Stadium für ihre marxistischen Stufentheorie der Geschichte.

 

Engels, Friedrich: Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates. Berlin, 1983.

Auf dem Boden von Marx’ Notizen (nach dessen Tod) sowie seiner eigenen argumentierte Engels, dass die Kontrolle über das Privateigentum es den Männern ermöglicht hatte, das Matriarchat zu stürzen, um die Kontrolle über den Haushalt zu erlangen, der früher eine weibliche Domäne war. Die Monogamie war nicht nur eine soziale Institution, sondern hatte auch eine wirtschaftliche Grundlage, die im patriarchalen Sieg des Privateigentums über das matriarchale Gemeinschaftseigentum wurzelte. Ursprünglich im Jahr 1884 auf Deutsch veröffentlicht.

 

Reed, Evelyn. Woman’s Evolution: From Matriarchal Clan to Patriarchal Family. New York: Pathfinder Press, 1975.

Reed  argumentierte, dass alle Kultur aus der Mutter-Kind-Beziehung hervorging. Dabei biologisierte sie das Matriarchat und präsentierte viele Argumente von Engels neu. Da sie eine Marxistin war, beschränkte sich ihre Darstellung des Matriarchats auf marxistische Vorurteile.

 

Rechts gerichtete Perspektive auf das Matriarchat

Rechts gerichtete Autoren anerkannten das Matriarchat, allerdings verachteten sie es politisch, rassistisch, sexuell und psychologisch. Morgan kam 1877 auf das Thema zurück und verachtete das Matriarchat als auf den unteren Stufen der kulturellen Entwicklung angesiedelt, während Powell 1897 es völlig auf „Wildheit“ einschränkte.  Wie bei Sigmund Freuds berühmten Ausspruch, dass „Anatomie“ „Schicksal“ sei (und Freud zitierte Napoleon), herrschte verbreitet die Ansicht, der Grund fürs Matriarchat sei rein physiologischer Natur, wie bei Briffault 1927, so dass die westlichen Vorurteile über die „Wildheit“ und die physiologische Ablehnung von Frauen die Analyse des Matriarchats weiterhin bis ins zwanzigste Jahrhundert prägten.

 

Morgan, Henry Lewis. Die Urgesellschaft, Stuttgart 1891.

Morgans problematisches Werk konstruierte eine eindimensionale Stufentheorie der Geschichte (Wildheit → Barbarei → Zivilisation), eine Denkform, die im 19. Jahrhundert unter europäischen Theoretikern sehr beliebt war. Seine strenge und universelle, kulturelle Evolutionstheorie wand sich über vorgefasste Stadien aufwärts und gipfelte im Patriarchat, wobei Morgan das Matriarchat bei der „Barbarei“ einstufte, was zwangsläufig ebenfalls ein primitives Stadium darstellt. Dieser fatale Interpretationsrahmen sollte in der westlichen Kultur im nächsten Jahrhundert vorherrschen.

 

Powell, John Wesley. “Report of the Director.” Fifteenth Annual Report of the Bureau of American Ethnology to the Smithsonian Institution, 1893–’94.  Washington, D.C.: Government Printing Office, 1897, xvii–cxxi.

Als Direktor des US-amerikanischen Amts für Ethnologie bestätigte Powell im Jahresbericht 1897, dass das Matriarchat existiert, aber er gab (nach Morgan) seine Existenz nur auf der „primitivsten“ Ebene von Kultur zu. Er behauptete, das Matriarchat sei durch das Patriarchat als vermeintlichem Fortschritt, dem Schritt vor der „Zivilisation“, folgerichtig ersetzt worden, gemäß dem rassistisch-sexistischen Denkschema der damaligen westlichen Wissenschaft (Powell, civ-cv).

 

Briffault, Robert. The Mothers: A Study of the Origins of Sentiments and Institutions. 3 Bde., 1927.
Neuausgabe New York: Johnson Reprint Corporation, 1996.

Briffault führte alle Grundmuster des sozialen Verhaltens und der Institutionen  auf das instinktive Verhalten zurück, von dem er annahm, dass es charakteristisch für weibliche statt für männliche Handlungsträger sei. Ein fundamentaler weiblicher Einfluss, basierend auf Mutterschaft, war bezüglich patriarchaler Gesellschaften nicht zu verstehen, so dass Briffault schloss, dass die Entwicklung größerer sozialer Institutionen matriarchal war und ein frühes Stadien darstellte, das allerdings als vorläufig und nicht als endgültig betrachtet werden muss.