Einführung und Definition

In westlichen Berichten hat es immer Hinweise auf das Matriarchat gegeben, wenn auch verstreut oder versteckt inmitten anderer ethnographischer Spezialitäten, die alle durch die androzentrische Brille christlicher Missionare oder europäischer Reisender stark gefiltert wurden. Die meisten dieser alten, europäischen Quellen drückten entweder Verwirrung oder Entsetzen über von Frauen geführte Kulturen aus, da sie nichts Bekanntes fanden, woran sie sich klammern konnten, abgesehen von Gruselgeschichten von Herodot über die wilden Amazonen als “Männerschlächter” oder die christlich-theologischen Darstellungen der sündigen Eva, die zu den brennenden Scheiterhaufen der sog. „Hexenjagden“ führten (Pogrome gegen Frauen). Die Auswanderung aus Europa im fünfzehnten und sechzehnten Jahrhundert, vor allem nach Afrika und Amerika, Heimat vieler matriarchaler Kulturen, war sehr beunruhigend für das patriarchale Paradigma Europas. Bis vor kurzem sorgte dieser Kulturschock in Verbindung mit dem Kolonialismus dafür, dass die Matriarchatsforschung ausschließlich von westlichen Elitewissenschaftlern unternommen wurde, fast alle männlich und aus einer Kultur stammend, die nicht im Entferntesten einer matriarchalen Kultur gleicht.  Die Wissenschaftler des 19. Jahrhunderts waren alle von der universellen, eindimensionalen Evolutionstheorie (Stufentheorie der Geschichte) als Teil des europäisch-amerikanischen Kolonialismus durchdrungen, die rassistische und sexistische Wurzeln hatte.  Diese Beeinträchtigungen verzerrten das Verständnis der matriarchalen Gesellschafsform und erlaubten es westlichen Wissenschaftlern, sie entweder direkt als Fantasie abzutun oder sie übertrieben als eine üble amazonische Herrschaft über die Männer darzustellen. Dieser Hintergrund hinterließ bleibende Spuren in der Forschung zu Matriarchaten, bis im 19. Jahrhundert bei deutschen und amerikanischen Wissenschaftlern ein neues Interesse geweckt wurde, wobei der Fokus von der amazonischen Vorstellung zur Definition des Matriarchats als “Mutterrecht” verlagert wurde. Diese Wissenschaftler blieben jedoch bis weit ins 20. Jahrhundert in den rassistischen und sexistischen Prämissen des europäischen Kolonialismus verstrickt. Als sich der koloniale Eurozentrismus Mitte bis Ende des zwanzigsten Jahrhunderts auflöste, begannen Wissenschaftler/innen aus nicht-westlichen, matriarchalen Kulturen weltweit, an der Diskussion teilzunehmen, um gemeinsam mit westlichen Wissenschaftlerinnen alte Ideen umzuformulieren. Die „mütterlichen Werte“ in der Matriarchatsforschung weisen nicht auf westliche Sentimentalität hin, sondern auf Prinzipien, die von indigenen, matriarchalen Gesellschaften selbst in ihren Redewendungen (z.B.: Minangkabau) und in ihren sozialen Regeln (z.B.: Irokesen) formuliert wurden und die auf Mutter Natur als Prototyp beruhen, wie sie in der Mythologie, Sprichwörtern, Liedern, usw. dargestellt wird.  Nimmt man diese Untersuchungen nicht-westlicher und westlicher Wissenschaftler/innen des einundzwanzigsten Jahrhunderts zusammen, so wird hier das Matriarchat als  mutterzentrierte Gesellschaft definiert, basierend auf mütterlichen Werten: Gleichheit, Konsensfindung, Haltung des Schenkens, Herstellen und Erhalten des Friedens durch Verhandlungen. Die von der modernen Matriarchatsforschung als transitive Beziehung in geschlossenen Gemeinschaften definierte „Ökonomie des Schenkens“ ist ein Kernkonzept sämtlicher Matriarchate. Das Ergebnis ist eine gender-egalitäre (geschlechter-demokratische) Gesellschaft,  in der jedes Geschlecht seine eigene Macht- und Handlungssphäre hat. Alle diese Gesellschaften sind charakterisiert durch Matrilinearität, Matrilokalität und Frauen als Hüterinnen von Land und Verteilerinnen der Lebensmittel, auf der Grundlage einer strukturierten Schenke-Ökonomie. Aus induktiven Untersuchungen einzelner matriarchaler Gesellschaften und in Zusammenarbeit mit indigenen Wissenschaftler/innen, die ihre eigenen Gemeinschaften darstellen, lautet die gegenwärtige Definition von Matriarchat: eine mutterzentrierte, egalitäre Gesellschaftsform, in der Schenke-Ökonomie praktiziert wird. Die moderne Matriarchatsforschung untersucht in erster Linie die Muster dieser Kulturen, sowohl der vergangenen wie der gegenwärtigen, in ihrer einzigartigen Ausprägung der Egalität zwischen den Geschlechtern und der allgemeinen, gesellschaftlichen Egalität.